Alphabetisierung durchbricht Teufelskreis
Die Alphabetisierung ist der Weg, den Teufelskreis von Unwissenheit, Armut, Hunger, Krankheit und Kindersterblichkeit zu durchbrechen. Wie kann man seine Rechte bewahren und vertreten, wie beruflich weiterkommen, wie teilnehmen an gesellschaftlichen Prozessen, seine Kinder gesund erhalten, ernähren und fördern, wenn man die Techniken des Lesens und Schreibens nicht beherrscht?
Man weiß heute, dass Bauern 15-20 % höhere Erträge erwirtschaften, wenn sie diese Kulturtechniken beherrschen. Aber eine Milliarde Menschen können nicht Lesen und Schreiben. Viele sind darüber hinaus funktionale Analphabeten. Oft gibt es keine Schulen – viele mussten als Kinder auf den Feldern arbeiten oder in Fabriken schuften.
Die großen Alphabetisierungskampagnen sind meist daran gescheitert, dass Erwachsene wie unmündige Schulkinder behandelt wurden: sich melden und den Finger aufzeigen, aufstehen und setzen, vorsprechen und nachsprechen, anschreiben und abschreiben – das wurde den Erwachsenen nicht gerecht. Man ließ außer Acht, dass es sich um lebenstüchtige, kompetente Menschen handelte, die so viel können, was wir nicht können, um unter schwierigsten Umständen zu überleben. Dementsprechend war die Abbrecherquote sehr hoch.
Nach einem Pilotprojekt im Iran, lange vor Gründung der abc-Gesellschaft und einer Zeit des Suchens und Versuchens in mehreren Ländern Lateinamerikas, kam es zu einem Gespräch mit Paolo Freire, dem brasilianischen „Pädagogen der Befreiung“, der den Bewusstmachungsprozess als Voraussetzung für die Erwachsenen-Alphabetisierung nutzte. Franz-Josef Kuhn hat diese Grundidee übernommen und eine Methodologie und die entsprechenden Materialien der „Bilderdiskussion“ entwickelt. Hinzugefügt wurden Materialien für die in romanischen Ländern spielerisch einsetzbare Silbenfamilienmethode. Die Alphabetisierung klappte sofort und hervorragend!
Für die Bilderdiskussion werden Fotos oder Zeichnungen aus der Umwelt der Lernenden als Poster gedruckt und in großen Aufstellern zusammengefasst. Die Themen sind Wasser, Strom, Kleidung, Gesundheit, Kindersterblichkeit, Ernährung, Beruf, Landwirtschaft, Vermarktung, Bildung, Traditionen, etc.
Durch diese Poster werden Diskussionen ausgelöst über alles, was die Menschen dort bewegt und bedrängt. Sie wurden Motivation für die Lernbereitschaft und dienten als Triebfelder für die Veränderung der Lebensumstände des Einzelnen und der Dorfgemeinschaften.
Aus der Diskussion wird ein bedeutsamer Satz genommen, aus diesem ein „generatives Wort“ herausgelöst und in seine Silbenfamilien zerlegt. D.h. an die jeweiligen Silben werden immer alle Vokale drangehängt und daraus so viele neue Wörter gebildet, wie möglich. So kann man leicht aus dem Wort "Casa" (= "Haus") 30 – 35 neue Wörter bilden.
Die abc-Gesellschaft hat neben den regionalen Diskussionspostern und den Materialien für die Silbenfamilien tausende und abertausende von passenden, bebilderten Lernheften in den Indianersprachen Quechua, Aymara, Guarani und natürlich Spanisch produziert.
Sie wurden in großen, erfolgreichen Kampagnen in Bolivien und Ecuador, zum Teil auch in Peru eingesetzt. Tausende von Frauen und Männern haben damit Lesen und Schreiben gelernt.